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Wenig Schnee im Winter, Einfluss von Saharastaub und anhaltende Hitzewellen: Noch nie wurde in der Schweiz eine so dramatische Gletscherschmelze gemessen wie im Sommer 2022. Das zeigen die Ergebnisse des Schweizer Gletschermessnetzes, an dem auch die UZH beteiligt ist.
Nachbohren eines Messpegels auf der grauen, schneefreien Gletscherfläche der Plaine Morte. In diesem Jahr schmolz hier eine Eisschicht von bis zu fünf Metern Dicke ab. Damit der Gletscher im Gleichgewicht mit dem Klima wäre, müsste zu dieser Zeit noch rund ein Meter Schnee aus dem Winter liegen. (Bild: M. Huss)
Die Masse eines Gletschers verändert sich im Jahresverlauf. Im Winter nimmt sie durch Schneefall zu, und im Sommer schmilzt der Schnee auf den Gletschern – ein natürlicher Prozess. Je nach Intensität von Winterschneefall und Sommerschmelze verändert sich die Gletschermasse.
Die sogenannte Massenbilanz, der Unterschied zwischen Zuwachs und Verlust der Gletscher, fiel durch den Klimawandel in den vergangenen Jahrzehnten bei den meisten Gletschern stets negativ aus. Dieses Jahr überwog der Verlust jedoch massiv: «Einen solchen Rückgang haben wir noch nie zuvor gemessen», erklärt Glaziologe Andreas Linsbauer.
Der UZH-Forscher arbeitet für das Schweizer Gletschermessnetz GLAMOS. Die Universität Zürich, die ETH Zürich und die Universität Freiburg führen das Monitoring gemeinsam durch: Mitarbeitende und Doktorierende unterstützen das Projekt tatkräftig mit Feldarbeit auf dem Eis.
Im bisherigen Rekordjahr 2003 verloren die Schweizer Gletscher knapp vier Prozent ihres Volumens. In den letzten Jahren waren Verluste von einem bis zwei Prozent üblich. Dieses Jahr verloren die Schweizer Gletscher jedoch mehr als sechs Prozent ihres Volumens: «In einem Jahr hatten wir ungefähr den Verlust von insgesamt drei Jahren», fasst Andreas Linsbauer zusammen. Doch wie kam es zu diesem extremen Verlust?
Im April und Mai messen die Forschenden jeweils auf ausgewählten Gletschern, wie dick und wie dicht die Schneeschicht ist. Bereits im Frühling sah die Lage für die hiesigen Gletscher nicht besonders rosig aus.
Den Forschenden fiel auf, dass 2022 besonders wenig Schnee auf den Gletschern lag. «In den ganzen Alpen fiel wenig Schnee, was natürlich Auswirkungen auf die Gletscher hat», meint Gletscher-Forscher Andreas Linsbauer.
Auch der Saharastaub hatte grossen Einfluss auf die Gletscher. Dieser wehte zwischen März und Mai in grossen Mengen in die Alpen. «Der Saharastaub verfärbt den Schnee, der auf dem Gletscher liegt, gelb-bräunlich», erklärt Linsbauer. Der Schnee reflektiert dadurch weniger Sonnenlicht und schmilzt schneller. Dabei ist er die Schutzschicht des Gletschers. Schmilzt der Schnee über dem Gletscher, ist das Eis darunter der Sonneneinstrahlung früher und stärker ausgesetzt.
Schon im Mai überrollte uns dieses Jahr die erste Hitzewelle. Insgesamt blieb das Wetter bis Anfang September rekordmässig heiss, sonnig und wolkenlos. Das warme Klima dezimierte das Gletscher-Eis noch weiter. Die Schneedecke verschwand auf allen Höhenstufen rund einen Monat früher als üblich. Dabei zeigten die Messungen auf dem Weissfluhjoch in Graubünden (2540 m) das zweitfrüheste je gemessene schneefreie Datum (6. Juni) seit dem Messbeginn vor 80 Jahren.
Für die Gletschervermessungen werden Ende Sommer auf den Gletschern acht bis zehn Meter tiefe Löcher gebohrt. In diese werden Messstangen eingelassen, anhand derer die Forschenden ein Jahr später ablesen können, wie viel Eis in einem Jahr geschmolzen ist. «Wir bohren die Stangen so tief in den Gletscher, damit wir auch einen Extremfall wie 2003 messen könnten.»
Bereits zu Beginn des Sommers wurde aber klar, dass es dieses Jahr einen besonders extremen Verlust geben wird, der sogar die Gletscherschmelze von 2003 übersteigen könnte. Die Gletscher verloren dieses Jahr so viel Masse, dass die GLAMOS-Forscherinnen und Forscher bei einigen Messpunkten bereits Mitte Sommer nachbohren mussten, um die Messungen zu retten.
Verheerend war die Schmelze insbesondere für kleine Gletscher: Der Pizolgletscher im Kanton St. Gallen, der Vadret dal Corvatsch in Graubünden und der Schwarzbachfirn in Uri sind praktisch verschwunden. Messungen erübrigten sich hier.
«Schneearmut, Saharastaub und Hitzewellen waren eine sehr unglückliche Kombination, die zu diesen extremen Verlusten führten», stellt Linsbauer fest. Der unterliegende Grund für die Gletscherschmelze ist jedoch seit Jahren derselbe: die globale Erderwärmung. Schlussendlich sei auch diese Rekord-Gletscherschmelze ein «Warnsignal für den Klimawandel».
Patrizia Widmer, Redaktorin UZH Kommunikation