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Eine Chronologie der Veränderungen am westlichen Grönländischen Eisschildrand seit der Schweizer Expedition von 1912: Historische Karten und Luftbilder, aber auch Satellitendaten, Drohnenaufnahmen und GPS-Messungen spannen den Bogen zur heutigen Klimaforschung.
Eisschilde, also die grossen, von Eis bedeckten Landkörper Antarktis und Grönland, sind als Anzeiger der globalen Klimaerwärmung bekannt. Meist stehen die schnellen Auslassgletscher im Fokus. Sie enden im Meer und sind für einen Grossteil des Massenverlustes verantwortlich. Ihre Höhen- und Längenänderungen hängen von der Luft- und Wassertemperatur, von Variationen in der Fliessgeschwindigkeit, aber auch von der Topographie am Gletscherbett ab.
Im Gegensatz dazu sind die Eisränder, die auf dem Land verlaufen, in ihrer Bewegung viel träger. Deshalb ist das Ausmass der Veränderung oft weniger dramatisch und entsprechend schwieriger zu messen. Ihre Dynamik ist fast ausschliesslich von der Oberflächenbilanz abhängig: Höhen- und Längenänderungen sind primär von der Lufttemperatur abhängig und deshalb besonders gute Anzeiger der Klimaveränderung. Das war eine wichtige Motivation, in meiner Masterarbeit solche wenig betrachteten, langsam fliessenden und auf dem Land gelegenen Eisschildränder in den Fokus zu rücken. Konkret die beiden angrenzenden Eisrandbereiche «Nunap Kigdlinga» und «Sermeq Kujalleq», wobei Letzterer bei einer Geländestufe eine Art Gletscherzunge bildet.
Wie haben sich diese beiden Eisrandgebiete in den letzten gut 100 Jahren verändert, was ihre Ausdehnung, Eisdicke und Fliessgeschwindigkeit betrifft? Um diese Leitfrage zu beantworten, kombinierte ich eine Vielzahl verschiedener Datenquellen: Die erste davon stammt von den Schweizer Polarforschern Alfred De Quervain und Paul-Louis Mercanton. Ihnen gelang 1912 die zweite erfolgreiche Überquerung des grönländischen Eisschildes. Im Zuge dessen entstanden auch ausführliche Beschriebe und Karten jener Stelle des Eisrandes, wo sie aufs Eisschild gelangten: «Nunap Kigdlinga». Vor Ort konnte ich die alten Referenzpunkte neu einmessen und die historischen Karten so exakt georeferenzieren. Es sind diese Aufzeichnungen, die den ersten Zeitpunkt meiner Zeitachse darstellen.
Die nächsten flächigen Informationen liegen von 1959 in Form von dänischen Luftaufnahmen vor. Mithilfe moderner «Structure from Motion»-Software konnte ich daraus ein 3D-Geländemodell für jene Zeit berechnen. Für 1985 lag mit dem AeroDEM ein solches bereits vor. Ab dem Jahr 2000 flossen Satellitendaten ein, welche mit der Zeit immer bessere Auflösungen aufweisen. Den «Ist-Zustand» habe ich schliesslich vor Ort mit Hilfe einer Drohne dokumentiert und dann mit «Structure from Motion»-Software ein hochpräzises Geländemodell mit einer Auflösung von wenigen Zentimetern erstellt. Durch diese aussergewöhnlich lange Zeitachse lassen sich nun die Entwicklungen der letzten gut hundert Jahre nachvollziehen.
Die Resultate sprechen eine deutliche Sprache: Von 1912 bis ca. 2003 war die Dicke und Ausdehnung des Eises bemerkenswert konstant. Erst dann setzte eine massive Schmelze ein: Das Eis verlor seither kontinuierlich an Fläche und Mächtigkeit. Zeitgleich verlangsamte sich die Fliessgeschwindigkeit im Gebiet der Sermeq Kujalleq-Gletscherzunge.
Dieser Wandel kommt fast ausschliesslich durch die Oberflächenschmelze zustande und korreliert stark mit den steigenden Lufttemperaturen, welche an umliegenden Wetterstationen in diesem Zeitraum beobachtet wurden. Der aktuelle Höhenverlust der Eisoberfläche im untersuchten Gebiet ist in den letzten hundert Jahren unerreicht. Das zeigt, wie einschneidend die heutigen Veränderungen sind.
Diese Erkenntnisse sind für das Verständnis der Dynamik der Eisschilde und ihrer im Meer endenden Gletscher von grosser Bedeutung. Kann man eine der vielen Einflussfaktoren quantifizieren, erleichtert das die Einschätzung der verbleibenden.
Simon Schudel