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Geographisches Institut

«Die Geographie konnte ihr verstaubtes Image ablegen»

Robert Weibel war bis Ende Januar 2025 Professor für Geographische Informationswissenschaft am GIUZ. Wie ein Präsidentendekret nicht nur dieses Fach, sondern die ganze Welt verändert hat, was ihm in der Lehre besonders wichtig war und wie seine Zukunftspläne aussehen, erzählt er im Interview.

Magdalena Seebauer

Die Büchergestelle sind schon ziemlich leergeräumt, als ich Robert Weibel Ende Januar in seinem Büro treffe. Seine Zeit als Professor für Geographische Informationswissenschaft geht zu Ende. «Meine Frau ist Bibliothekarin, von ihr habe ich gelernt, effizient auszusortieren», sagt er lachend. Er zeigt auf den bereits wieder randvollen Altpapierbehälter. «Dass wir heute so vieles digital aufbewahren können, ist schon ein Segen», sagt einer, in dessen beruflichem und akademischem Leben die Digitalisierung das Fach Geographie grundlegend verändert hat.

Seit den 1980er Jahren, als du studiert hast und die Geographische Informationswissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, hat sich unglaublich viel getan. Damals hast du zuerst noch Daten auf Lochkarten verarbeitet – heute prägt KI unseren Alltag. Wenn du zurückblickst: Gibt es ein einzelnes Ereignis, das diese Entwicklung besonders beeinflusst oder vorangetrieben hat?

Robert Weibel: Das war wohl die Aufhebung der sogenannten Selective Availability im Mai 2000 durch ein Dekret des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Bis dahin waren genaue GPS-Daten dem Militär vorbehalten, für den zivilen Gebrauch wurden die Signale künstlich verfälscht. Dass plötzlich genaue GPS-Daten für alle verfügbar waren, war ein starker Treiber für die technologische Entwicklung. Und auch für die Forschung – in der Geographischen Informationswissenschaft wie auch in der Fernerkundung.

Wenn man bedenkt, wie viele Anwendungen heute über GPS funktionieren! Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Smartphone einfach nur als Telefon entwickelt worden wäre. Wichtig für die Geographie: Wer heute Google Maps, Uber oder Strava nutzt, setzt sich unwillkürlich auch mit dem Raum auseinander. So ist die Geographie quasi durch die Hintertür in den Alltag aller eingezogen und konnte ihr verstaubtes Image ablegen.

Neben allen kommerziellen Anwendungen war der Schub für die Forschung immens. Man konnte nun Proband:innen, Fahrzeuge oder auch Wildtiere relativ einfach und kostengünstig mit einem Ortungssensor ausstatten. Das hat viele neue Möglichkeiten eröffnet, die davor undenkbar waren. Aber es hatte auch noch andere Folgen.

Welche?

Wir wurden als naive Technokraten gesehen. Der damalige Präsident der American Association of Geographers Terry Jordan bezeichnete das GIS in einer «President's column» als «easily justified but non-intellectual expertise». Uns wurde ein positivistischer Ansatz vorgeworfen, der soziale Kontexte und ethische Fragen vernachlässige. Und dass die neuen technologischen Möglichkeiten nicht ausreichend auf einer erkenntnistheoretischen Ebene reflektiert würden.

Dazu kam, dass GIS in den 1990er Jahren weltweit in den Geographischen Instituten in der Forschung und Lehre Fuss zu fassen begann.  Das GIUZ war das erste Institut in Kontinentaleuropa, das bereits 1981 einen Lehrstuhl spezifisch für GIS einrichtete und damit eine Führungsrolle übernahm. Wenn die einen expandieren, fühlen sich die anderen bedrängt. In den darauffolgenden Jahren hat man innerhalb der Geographie intensiv diskutiert, wie Technologien die Gesellschaft beeinflussen – und vice versa. Ein Resultat davon war, dass seither GIS nicht mehr für Geographic Information Systems, sondern für Geographic Information Science stand. Damit war die Wissenschaft im Zentrum, nicht mehr nur die Technologie.

Diese kritische Auseinandersetzung aber auch Themen wie Informationszugang und Ungleichheit haben zu neuen Verbindungen mit den Sozialwissenschaften geführt. Fächer wie Geschichte, Soziologie oder Linguistik haben für ihre Forschung die Bedeutung des Raums entdeckt. Und es konnten davor unterrepräsentierte Gruppen in Erhebungen eingebunden werden. Auch viele Citizen Science Projekte sind möglich geworden. Es wurde klar, dass die Technologie nicht um ihrer selbst willen angewandt werden sollte, sondern dass sie einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen sollte. So entstand eine fruchtbare, interdisziplinäre Wechselwirkung.

Und wie ging es mit dem Aufkommen von Big Data ab den Nullerjahren weiter? 

Plötzlich standen enorme Mengen an Daten zur Verfügung. Sie entstanden quasi von selbst – aus Mobilfunkdaten, Pendlerbewegungen, sozialen Medien und vielen weiteren Quellen. Die wissenschaftliche Nutzung war dabei oft nur die Zweit- oder Drittnutzung.

Das birgt schon die Gefahr, dass man unreflektiert drauflos forscht. Und bringt viele ethische Fragen mit sich. Darf man all diese Daten nutzen? Wer darf das – und unter welchen Bedingungen? Tracking-Daten nur zu anonymisieren, reicht nicht. Es ist relativ einfach, auf den Wohn- und Arbeitsort eines Individuums zu schliessen. Wenn diese Person noch georeferenzierte Bilder in den sozialen Medien postet, hat man deren Tagesablauf schnell rekonstruiert. Schlussendlich ist es immer ein Trade-Off, wie weit die Daten degradiert werden müssen, um die Persönlichkeit zu schützen, aber um doch gewisse Forschungsfragen beantworten zu können. 

Wo stehen wir heute?

Die Rahmenbedingungen ändern sich rasant. Gleichzeitig gibt es eine extrem beschleunigte technologische Entwicklung. Die sogenannte digitale Kluft gibt es weiterhin. Früher war es vor allem der Unterschied im Zugang zum Internet, der stark von technischen und sozioökonomischen Faktoren abhängig war. Heute spielt in der ersten Liga mit, wer sich mit künstlicher Intelligenz auskennt. Allein wie das unsere Lehre und Forschung verändert hat!

Und Dekrete eines US-Präsidenten verändern auch heute die Rahmenbedingungen massiv, das erleben wir ja gerade fast im Minutentakt. Und sie könnten noch viel einschneidendere Auswirkungen auf unseren Alltag und unsere Forschung haben. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

Du hast die Lehre erwähnt – im Laufe der Jahre hast du viele Studierende begleitet. Was war dir dabei besonders wichtig?

Ich wollte den Studierenden einen Einblick geben, was in der «Realwelt» läuft. Ich bin mit ihnen zu GIS-Firmen und an die entsprechenden Fachstellen in der Verwaltung gegangen. In den Vorlesungen und Übungen haben wir natürlich auch viele Beispiele gebracht. Aber die Unmittelbarkeit, wenn man «im Feld» steht, ist einfach eine andere – genau wie in anderen geographischen Subdisziplinen, wenn Glaziolog:innen mit Studierenden auf den Gletscher gehen oder Humangeograph:innen internationale Organisationen besuchen.

Das Interesse war immer gegenseitig. Die Unternehmen wollten ihre Praktika vorstellen, und die Studierenden bekamen einen direkten Eindruck davon, was sie im Berufsleben erwartet – und dass sie in der Branche willkommen sind. Ich habe Freude daran zu sehen, an welchen Positionen unsere GIS-Absolvent:innen heute sind. Das gibt mir das Gefühl, dass ich eine Wirkung hinterlassen habe.

Wie geht es für dich nun weiter?

Ich werde weiterhin an Forschungsprojekten arbeiten, und zwar am UZH Healthy Longevity Center. Dort stehen Forschung und Innovation rund um gesunde Langlebigkeit im Fokus – mit einem ganzheitlichen Ansatz. Im Kern geht es darum, wie wir körperlich und mental gesund älter werden können. Dazu arbeiten Gerontolog:innen, Psycholog:innen und Ökonom:innen interdisziplinär zusammen – und eben auch Geograph:innen.

Ein grosser Teil meiner Arbeit wird die eines Postdocs sein: Ich werde Daten analysieren, programmieren und vieles mehr – darauf freue ich mich sehr! In unserem Projekt MOASIS untersuchen wir, wie Mobilität, Aktivität und soziale Interaktionen das Wohlbefinden und die geistige Leistungsfähigkeit beeinflussen. Wir haben nun von einer ziemlich grossen Stichprobe an Proband:innen Longitudinaldaten über sechs Jahre. Ich will einfach wissen, was da rauskommt! Ausserdem werde ich drei Doktorierende weiterbetreuen und an anderen, kleineren Projekten mitarbeiten, zum Beispiel mit der Sportmedizin an der Universität Basel.

Du hast viele Jahre im Professor:innen-Boot der UZH gerudert. Wie wird es mit deiner sportlichen Karriere weitergehen?

Wieder häufiger frühmorgens auf dem See zu sein, das ist schon der Plan. Aber das Rennen fahren überlasse ich den Jüngeren. Ich war mehr als fünfzehn Mal an der UNI-POLY Ruderregatta auf der Limmat dabei, dreizehn Mal davon als Schlagmann. Das war schon eine coole Sache! Der Professor:innen-Achter ist eines der wenigen «Gremien» für Professor:innen, das sich ausserhalb der offiziellen Strukturen der UZH bewegt – und hat viel spannenden Austausch über Fakultätsgrenzen hinweg ermöglicht!

Robert Weibel (2. von rechts) mit dem siegreichen Professor:innen-Boot der UZH im Jahr 2018 (Bild: ASVZ/Marc Weiler Photography)

Prof. Robert Weibel war von Oktober 1992 bis Januar 2025 zuerst Assistenzprofessor und ab 2000 Professor für Geographische Informationswissenschaft am Geographischen Institut der Universität Zürich.
Persönliche Website

Laufende Forschungsprojekte
MOASIS
MOBITEC-Routes

Eines der Ruderrennen des Professor:innen-Boots der UZH – mit Robert Weibel als Schlagmann – kann man hier live miterleben.

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